Manchmal braucht es den Blick von außen, um etwas über sich selbst zu lernen. Insofern wären die Krefelder gut beraten, bei der neuen Ausstellung im Kunstverein genau hinzusehen. Die Berliner Zeichnerin Nikola Röthemeyer zeigt dort auf beeindruckende Weise, wie viel Inspiration bis heute in Krefelds textiler Geschichte steckt. Die selbst ernannte Stadt wie Samt und Seide, die ihre Schätze in Linn und anderswo sträflich vernachlässigt, gewinnt in Röthemeyers präzisen, fantasievollen Arbeiten ungeahnte Lebendigkeit.
Die Zeichnungen zeigen Frauen bei den oft monotonen Tätigkeiten, die ihnen in der frühen Textilproduktion zufielen. Konzentriert und still tun sie ihr Tagwerk und versinken dabei in einer Traumwelt. Röthemeyer umgibt sie mit Magie, lässt sie Fäden aus den Wolken spinnen, stellt ihnen Fledermäuse und Gürteltiere zur Seite. Das triste Außen und das rätselhafte Innen verschmelzen zu Bildern, von denen man den Blick kaum abwenden kann.
Das liegt an den skurrilen Ideen und der filigranen Zeichentechnik, an der faszinierenden Mischung aus Detailtreue und gezielter Reduktion. Es liegt an den Farben, an jenem Rot, das magisch aus dem Schwarz, Weiß und Grau heraustritt wie der Mantel des Mädchens im Filmklassiker »Wenn die Gondeln Trauer tragen«. Vor allem aber liegt es an der Zeit, die Röthemeyer sich nimmt und die sie dem Betrachter abverlangt. Ihren Zeichnungen haftet nichts Flüchtiges an, sie wirken ergründet und erforscht, wie das Ergebnis langer Konzentration. Nichts ist Zufall.
Tatsächlich standen vor dem ersten Strich lange Recherchen, die Röthemeyer ins Textilmuseum und ins Haus der Seidenkultur führten. Sie stöberte in Archiven, las Bücher, sah Webern bei der Arbeit zu. Die Szenen, die daraus in ihrem Kopf entstanden, inszenierte sie mit Modellen im Atelier und fotografierte sie. Erst ganz am Ende stand die Zeichnung: »Je mehr Zeit ich in die Bilder hineinstecke, umso mehr Zeit wird in ihnen konserviert«, sagt die Künstlerin. Das Verblüffende an den Arbeiten ist, dass Röthemeyers wissenschaftliche Herangehensweise in pure Poesie mündet. Im Lauf des Prozesses muss sie »den Absprung schaffen«, wie sie selbst sagt: »Das Dokumentationsmaterial muss über Bord.« Was dann geschieht, lässt sich an der wunderbaren Serie »Frauenzimmer« ablesen, die vor den Krefelder Bildern entstanden ist. In feinen Linien hat Röthemeyer Frauen porträtiert, die archaische Arbeiten verrichten. Doch sie nähen nicht Garn, sondern das Fell eines Wolfes, sie pflücken Flughunde von Bäumen oder angeln mit Eisvögeln. Die Fantasie geht mit ihnen durch, und das ist kein Makel, sondern ein seltenes Glück.
in: Westdeutsche Zeitung, S. 18, Krefeld, 25.11.2011