Nikola Röthemeyer sucht den empirischen Zugriff auf reale Gegebenheiten, wenn sie sich einem neuen Thema zuwendet, um es künstlerisch zu bearbeiten. Den Besuchern, die am heutigen Freitagabend die Eröffnung der neuen Ausstellung des Krefelder Kunstvereins besuchen, bietet sich die besondere Freude, Nikola Röthemeyers Begegnung mit der Krefelder Seidenindustrie nachzuvollziehen. Freilich sollte man auch erwarten, dass sich der Vorhang der Transzendenz zwischen die Realität und deren künstlerische Deutung schiebt. Und obendrein darf man sich darauf freuen, die Arbeiten einer exzellenten Zeichnerin zu betrachten.
Nikola Röthemeyer, 1972 in Braunschweig geboren, wählte bewusst 1994 die Kunsthochschule Burg Giebichenstein bei Halle als Studienort: »Die frühe Zeit der Wiedervereinigung war hochspannend.« Sie wusste auch, dass dort das Erlernen des Sehens und der handwerklichen Grundlagen künstlerischen Schaffens in der Tradition des Deutschen Werkbundes erste Pflicht sind: »Das war ein strenger Weg des Lernens vor der Verwirklichung künstlerischer Freiheiten, der mir aber enorme Ressourcen vermittelt hat, aus denen ich immer schöpfen kann.« Nach weiteren Studien-Stationen in Straßburg, Glasgow und Berlin konnte sie dann in eine eigene Ideenwelt eintreten.
So erlebt das Publikum des Krefelder Kunstvereins eine junge Künstlerin, die ein erstes Hochplateau ihres Schaffens erreicht hat, von dem aus der hoffnungsvolle Blick in eine weite, vielversprechende Zukunft geht. Dr. Magdalena Broska, Leiterin der Adolf-Luther-Stiftung und stellvertretende Vorsitzende der Freunde der Kunstmuseen, hat Nikola Röthemeyer für den Krefelder Kunstverein entdeckt und die Ausstellung betreut. Magdalena Broska vermittelte auch Kontakte zum Deutschen Textilmuseum in Linn, zum Haus der Seidenkultur und zu anderen Institutionen und Personen, die Nikola Röthemeyer einen Einblick in Geschichte, Techniken und unabsehbare Vielfalt textiler Tätigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten boten.
Das Spinnen, Weben, Sticken und Nähen, mit denen Frauen in Märchen vieldeutig beschäftigt sind, hatte Nikola Röthemeyer schon lange fasziniert. Das meditative Potential solcher langwierigen und höchste Aufmerksamkeit fordernden Verrichtungen war ein weiterer Anreiz. In Nikola Röthemeyers Zeichnungen werden diese Tätigkeiten zu Metaphern: Frauen ordnen die Fäden des Lebens, knüpfen das Netz der Zeit…
Die ausgestellten Zeichnungen sind mit harten Grafit-Stiften ausgeführt, die feinstes Gespinst ermöglichen, sich aber auch zu dunklen Schatten und Figuren verdichten. Die dargestellten Frauen sind durchaus als eigenständige Individuen zu erkennen. Ein Gegenstand darf jeweils in strahlendem Rot dynamisch und lebendig zwischen den grauen und schwarzen Tönen leuchten, was die Blätter zusätzlich zur attraktiven Augenfreude macht.
in: Rheinische Post, S. C6, Krefeld, 30.11.2011