Wie sähe unsere Welt ohne Wände und Dächer aus? Zugegeben, jedes Wort aus dem Nachbarzimmer will manchmal gar nicht verstanden werden. Und der Winter mit Schnee und Eis könnte ungemütlich sein. Aber spätestens im Sommer wäre ein Bett unter freiem Himmel doch ziemlich reizvoll. Diese Frau jedenfalls schlummert selig, wie sie da auf einem Baum liegt, der neben einem Schminktisch wächst: »Interior No. 2 (Valley)«, eine behutsame und skurrile Zeichnung, bewegt sich zwischen drinnen und draußen – und reißt Grenzen ein. Das macht Nikola Röthemeyer mit Vorliebe. Fenster? Türen? Finden sich in keiner ihrer drei zärtlich gezeichneten Serien, die die Berliner Galerie Kuckei + Kuckei ausstellt.
Aber eine Menge Frauen. Immer in Schwarz oder Weiß, oft rot akzentuiert. Alle sind sie selbstständig, gepflegt und ruhig – versunken in eine Tätigkeit, die irgendwie von der Realität abweicht. Eine Dame im Minikleid arbeitet an einem Pelz, ihrer Schneiderpuppe sitzt der Kopf eines Elches auf. Eine andere hebt ihren langen Rock, hervor fliegen Fische mit Flügeln. Beide kleinformatigen Zeichnungen gehören zu einer Reihe, die Nikola Röthemeyer »Frauenzimmer« nennt. Diesen Begriff dürfte der 1972 in Braunschweig geborenen und in Berlin lebenden Künstlerin selbst die größte Feministin nicht übel nehmen. Schließlich untersucht Röthemeyer mit vielen kleinen Bleistiftstrichen die Synthese von Figur und Raum.
»Wann werden Frauen zu Zimmern?«, fragt sie sich. Ihre Arbeiten, in denen gebügelt, ferngesehen und Tee getrunken wird, verraten zumindest so viel: wenn sie lieben, was sie gerade tun. Dass das nicht immer ein typisch weiblicher oder hausfräulicher Zeitvertreib sein muss, verrät Röthemeyer selbst: »Mir geht es ähnlich, wenn ich zeichne. Ich tauche ab, in eine Art Unterwasserwelt.«
Auftauchen musste Röthemeyer schließlich für »Gravenhorst PillowBook«, ein anderes, womöglich ihr liebevollstes Projekt – und verreisen, von der Wahlheimat Berlin ins Münsterland. Dort wollte die Künstlerin von elf Bewohnerinnen eines Seniorenheims wissen, welche ihre kostbarsten Andenken seien. Heraus kamen Geschichten über Familienfotos, Perücken, Tiffanylampen, Liebe, Ehe und Tod, die sich auf Röthemeyers Leinwand schlichen. Doch dabei beließ sie es nicht: Mithilfe einer Vorlage bestickten Handarbeiterinnen Kopfkissen mit ihren Zeichnungen.
Ob Teddybär oder Schildkrötenpuppe, sämtliche Reliquien der Seniorinnen sind nun auf Papier und Stoff verewigt. Erwartungen und Enttäuschungen schwingen in den alten Erinnerungen dabei gleichermaßen mit. So ganz einfach habe sie den älteren Damen ihre Erzählungen auch nicht entlockt, gibt Nikola Röthemeyer zu: »Da musste ich erst eine Barriere durchbrechen.« Aber das kann sie ja gut.
in: Der Tagesspiegel, Nr. 20 487, S. 26 , Berlin, 2.1.2010