Tilo Schulz
9 Briefe – aus den Zeichnungen von ­Nikola Röthemeyer

Verehrter,
ich bin angekommen. Hier in dem Ort. Besser, an dem Ort. Ich bin nah dran. Noch nicht drinnen. Das wird Tage dauern. Du sollst jedoch wissen, dass ich mich jetzt hier befinde und das noch für einige Zeit.
Ich kenne deine Angst, mich zu verfehlen mit deinen Gedanken, mit dem Denken an mich. Eine Angst, die ich zu oft zu sehen bekam. Vor mir. In dir. Ein Rütteln, das ganze Welten erschüttern könnte. Doch war es dein Körper, waren es deine blassen stoischen Augen, deine Finger, Schenkel. Die Ruhe verlässt dich mit den verlorenen Gedanken an mich.
Nun weißt du mich (sicher). Kannst deinen Drang, kannst die Worte an mich senden. Hinüber über das Wasser, zu mir, an diesen Ort, den schönen, den befremdlichen.
Jetzt bin ich hier und möchte tätig werden, möchte tätig sein. Springen, wässern, tragen, herumtragen, kümmern und sitzen. Immer wieder sitzen, mit und ohne. Am Rad des Fadens und der Linie, tausendfach über das Blatt gezogen, geschwungen.

Verehrter,
ich bin früh ins Bett gestiegen. Geschlafen habe ich nicht oder kaum. Der Morgen kam und ich stand auf. Mit den frühen Stunden, dem Gezwitscher und dem Gleiten der Vögel. Über mir, auf mich. Sie waren mit mir und um mich. Im Flug und im Gefieder. Dunkel und weich, mit jedem Strich, mit jeder Zeichnung im Gefieder (und auf dem Blatt). Ich stand und sie kamen. Geflogen. Seitlich und von oben. Mit offenen Flügeln griffen sie, hoben mich und trugen Luft unter mein Federnkleid. Einen Boden gab es nicht, hatte es nie gegeben. Ich nahm die Welt unter mich und schritt aus, getragen von den Federn der Langsamkeit und bereits verlassen von meinen schwarzen Gefährten. Da sah ich sie, die Stützen dieser Welt. Die Volieren, Reifröcke, Käfige, Falten. Ein Gestänge der Zwänge, den anderen. Mir Freiheit, einfache Freiheit, Rückzug, Versteck, mein Schutz. Sie sind mir weniger ein Käfig, aus dem ich nicht fliehen kann und mehr ein … (Wunsch), in den die anderen nicht dringen. Weder können, noch es tun. Es ist mein Raum, ganz nah bei mir, unter den Röcken, dem Gefieder, in den Falten. Mein Raum zum Lassen. Zum Zulassen, Weglassen, zum Einlassen in die Welt, in die Beziehung zur Welt, zu den Tieren und Dingen und den Handlungen, nicht zu den Menschen.

Verehrter,
ich bin nicht vor das Haus getreten. Nicht vor das Haus und nicht aus dem Raum. Die Wände sind abgetaucht, haben sich aufgelöst, 
in Fäden und Linien. Diese durchschießen das Drinnen, das zwischen den Wänden, den abwesenden. Linie neben Linie, gesetzt, mit (Nach)Druck und deutlich, ohne Angst, ohne Zurückhaltung. Hier greift eine Hand ein. In den Raum, ins Leben, ins Bild. Und diese Hand lässt Wände schwinden und ganze Flüsse von Linien, von gezogenen, von gezeichneten Linien lässt diese Hand umspülen. Bäume, Kommoden, rote Socken, Hüften. Getragen werde ich von den Linien, dem Fluss an Schnüren. Es fühlt sich reif an, sicher. Nichts ist unerreichbar. Die Linie, die gezogene, findet den Weg, durch das Gestrüpp und über das Blatt, das weiße, gebrochen weiße. Sie bindet. Mich an den Stuhl, das Fenster an den Baum und deinen Blick an das Blatt.

Verehrter,
heute ist ein heller Tag. Sonnenlos, mit scharfen Konturen und ohne Schatten. Sie warten auf mich. Der Hirsch, die Gürteltiere, die Eisfischer, Kommoden, Stoffe, Fäden, Linien. Es gibt zu tun, gut zu tun. Sie warten auf mich. Draußen im Ort und außerhalb. Ich muss gehen, zu ihnen und aus meinem Raum. Ich muss handeln. Dort. Bei ihnen. Mit ihnen. Sie sind meine Begleiter und ziehen will ich mit ihnen. Durch die Welt, über die Blätter, die gebrochen weißen. Auf der Spitze des Stiftes will ich mit ihnen über die Linien stürmen, die gezeichneten.

Verehrter,
Tage sind vergangen seit meinen letzten Zeilen. Mir war es unmöglich (geworden) zu schreiben. Die Wege führten nicht zurück, nicht ins Haus, nicht an den Tisch. Erst verschwanden die Enden und dann der Anfang. Ich spürte keinen Grund unter meinen Füßen, fand keinen Sand unter meinen Knien. Nur ab und an gab es noch ein Tuch zum Aufsteigen, Federn zum Niederhocken, Zeichnungen zum Springen. Immer weniger zeigt sich mir der Ort und immer deutlicher werde ich, immer deutlicher an diesem Ort.
Hier stellt sich die Frage nach dem, was ist, nicht über das Zeigen. Das Weglassen, das Flüchtige bestimmt die Szenerie, das Geschehen. Ganze Passagen, Fellfetzen, Stuhlbeine sind brüchig, unvollendet und ausgelassen. Und genau dahin, da hinein zieht es mich. In diesen Raum, in die Leerstelle – ja, es ist keine Fehlstelle – in die Lücken, die Brüche zieht es mich. Strudel des Ausgelassenen, der Ausgelassenen, der Ausgestoßenen.

Verehrter,
erinnerst du dich an die Cavalli und wie sie schrieb: Laken war der Körper, ausgebreitet. 1 Wie oft haben wir gestritten über diese eine Zeile. Dir war es einzig ein Bild danach, am Morgen. Mir ging es um die Form, wie das Drunter das Drüber bestimmt und umgekehrt.
Doch hier, an diesem Ort verlieren sich Richtung und Zeit. Zeit 
wird zu einer Fadenschlaufe, zum Stillstand in der Fadenschlaufe. Unendlich ausgedehnt. Abgetaucht in einem Haufen Pfauenfedern, gekleidet. Mit diesem Immerfort im Halt, mit dem Fortwähren 
im Winden, Weben, Knüpfen, Flechten und Wirken hat das Innen und Außen seine Bedeutung aufgegeben. Alles ist sichtbar, durchsichtbar, deutlich. Nichts liegt im Verborgenen, im Heimeligen. Das Verbannte ist herausgetreten. Und wunderbar ist, es lässt sich nicht beschreiben, nur sehen.

Verehrter,
ich bin blind. Wenn einem Gesehen-Werden immer ein Sehen voraus geht oder Wahrnehmen, dann bin ich blind, bin ich ohne Sehen. Seit Tagen bewege ich mich an Blicken vorbei. Bewege ich mich durch Blicklinien, die nicht mir gelten (können). Entfernte Blicke, zeitlich entfernte. Und doch fühle ich mich aufgenommen, wahrhaftig aufgenommen. Die Blicke sind in die Dinge gerichtet. Ganz nah und weit entfernt.
Unser Freund Peter H. lies in einem seiner Texte den Wilhelm sagen: Plötzlich fällt mir etwas auf, was ich immer übersehen habe. Ich sehe es dann aber nicht nur, sondern kriege gleichzeitig ein Gefühl dafür. Das meine ich mit dem erotischen Blick. Was ich sehe, ist dann nicht mehr nur ein Objekt der Beobachtung, sondern auch ein ganz inniger Teil von mir. 2 Peter H. kommentierte diese Zeilen später mit: Ein Ding ist dann alles. 3
Und ich fühle mich in den Dingen, den Tieren, den Pelzen, den Furchen, Stoffen, Linien. Teil bin ich der Bewegung des Stiftes auf dem Papier. Zwischen den perlmuttenen Schichten, den Linien. Ich bin mit all dem und daher doch nicht blind, wenn auch fern.

Verehrter,
ich möchte dir ein Lasso werfen, über das Wasser und ohne Schlaufe. Nicht dich zu fangen. Wir könnten eine Linie ziehen zwischen den Welten, durch die Zwischenwelten, von dir zu mir. Von dort ins Hier. Du würdest auf dem Strich hinüber gleiten und wir würden springen, in den Seilen, uns verlieren in den Fadenwolken und knäulen in der Wulst des Ornaments. Lass uns spielen, spinnen, den Bildern einen Sinn geben. Mit der Bewegung der Hand und der Untrüglichkeit des Papiers unter dem Stift, dem Zeichenstift. Komm.

Verehrter,
die Tage sind gezählt. Die Linien habe ich abgeschritten, alle. Jeder Strich ist mir eingebrannt, durch das Sehen, durch das Ablaufen der Linie im und über die Flächen auf dem Papier. Ich bin zu einer Läuferin geworden, durch Welten und Räume, hier, zu einer, die läuft, steht, sitzt, trägt, auf Armen und im Herzen.
Ich kann jetzt sagen, ich bin in dem Ort. Hier und jetzt. Oder ich sage, ich bin im Bilde, stehend, angelnd, knüpfend. Kleider, Gedanken, Linien, die umgeben und uns sichtbar werden lassen, Strich für Strich, gesetzt und nicht zu wiederholen. Ich bin an diesen Ort gereist, um zu erleben, zu begegnen. Eine Reise habe ich angetreten. Nun ist der Tag gekommen, an dem ich abtreten werde. Abtreten vom Hier.

Ich werde keine Heimreise antreten. Eine Rückkehr ist mir unmöglich geworden. Die Tage hier haben das Sehen verändert und mein Blick führt mich anders, lässt mich die Schritte anders setzen. Die Welt ist mir neu, tritt mir frisch gegenüber. Wandlos. Sichtbar.

 
1   Patrizia Cavalli: Diese schönen Tage. Ausgewählte Gedichte 1974–2006, München 2009, S. 55.
2   Peter Handke: Falsche Bewegung, Frankfurt a. M. 1975, S. 58.
3   Brita Steinwendtner: Gespräch mit Peter Handke, 1982, unveröffentlichtes Typoskript aus Gerhard Melzer: Lebendigkeit: ein Blick genügt. Zur Phänomologie des Schauens, in: G. Melzer / Jale Tükel: Peter Handke, Die Arbeit am Glück, Frankfurt a. M. 1985, S. 132.

in: FrauenZimmer, Zeichnungen von Nikola Röthemeyer, Snoeck Verlag, Köln 2012