Jill Maurah Leciejewski
FrauenZimmer – Die Verrätselung des Alltags

Nikola Röthemeyers Arbeiten bewegen sich an den Rändern unterschiedlicher Stilrichtungen. 1 So vereinen sich Elemente aus dem Genre 2 und dem magischen Realismus 3 – der Magie des Alltäglichen und der fantastischen Seite der Realität. Kerngedanke der Serie der FrauenZimmer 4 ist es, Frauen in Beziehung zu ihrer Umgebung, ihrem Lebensraum und einer vermeintlichen Lebensrealität zu setzen. Die Protagonistinnen nehmen in den Arbeiten den Platz personifizierter Figuren 5 ein. Identität existiert auf der Basis der eigenen Handlung und der Identifikation damit, jedoch nicht in Form der Identifizierbarkeit einer der Frauen. Im zweiten Teil der Serie lassen sich diesbezüglich Veränderungen wahrnehmen. Die personifizierte Figur entwickelt sich hin zu einem Typus oder Paradigma.

Aus der Genremalerei entlehnt Nikola Röthemeyer alltägliche, oft häusliche Szenen wie Handarbeit, Haushaltstätigkeiten oder Momente des Ausruhens. Die dabei entstehenden Bildwelten sind in sich geschlossen, die Protagonistinnen sind ganz für sich. Es sind Szenen, in denen eine Kommode statt ein Paar Beinen unter einem Kleid hervorschaut, Laub unter den eigenen Rock gekehrt, ein Tigerfell zur zweiten Haut und das Tagwerk auf Stelzen verrichtet wird. 6 Der Raum um die Figuren wird nicht näher beschrieben, dennoch entsteht der Eindruck einer geschlossenen, vollständigen Welt. In der Interaktion mit dem umgebenden Raum gibt es keine Beschränkungen im Handeln der Frauen. Allem Anschein nach ist diese Ebene lediglich dem Betrachter verborgen, ihre Existenz durch die Positionierung der Protagonistinnen im Raum jedoch unbestritten. Nikola Röthemeyer entlehnt dieses Motiv dem japanischen Farbholzschnitt, wobei nicht Abbilder, sondern inhaltliche und formale Klarheit 7 das Derivat dieser Quelle sind. Die entstehenden Freiräume sind vergleichbar mit den überraschenden Naturausschnitten Katsushika Hokusais oder Kitagawa Utamaros. 8 In ihrer Reduktion und Präzision der Linie bereiteten sie den Weg für ein neues Verständnis von Anschnitt, Überschneidung und Abstraktion des Motivs. Die Arbeiten vermitteln so eine fernöstliche Stimmung oder Geisteshaltung. 9

FrauenZimmer n° 15 (Vermeer) stellt in Nikola Röthemeyers Serie eine Besonderheit dar. Vorlage und Inspiration dieser Arbeit ist Jan Vermeers Das Glas Wein von 1660/61. 10 Diese Wahl ist umso bemerkenswerter, da Vermeer in diesem Werk erstmals die gewohnte Nahsicht aufgibt. Das Interieur ist nicht länger Teil des Figurenausschnitts, die Figuren sind nun Teil des Interieurausschnitts. Röthemeyer isoliert die Frauenfigur im Raum, behält die markante Position bei und erweitert die Bildwirklichkeit in ihrem Sinne, indem das Kleid nun ganz selbstverständlich den Tisch bedeckt. Mit diesem motivischen Zitat beweist sie einmal mehr die tiefe Verbundenheit zum Genre. Ein weiteres Motiv verbindet die Arbeiten Nikola Röthemeyers mit denen der Genremaler: Häufig sind ihre Protagonistinnen in ihre Welt vertieft und in ihre Arbeit versunken. 11 In der Genremalerei des 17. Jahrhunderts ist es eine weibliche Arbeitswelt von Haushaltsführung, Handarbeit und Unterhaltung. 12 Vielfach kommt den Arbeiten eine Funktion als Exempla virtutis, also als positives Leitbild zu. 13 Dieser Funktionsraum ist in gewissem Sinne auch auf Röthemeyers Arbeiten anzuwenden. Wenn auch kein direktes Leitbild vermittelt werden soll, so sind die Protagonistinnen Personifikationen einer Arbeitsidee und der Tradition, der sie entwachsen sind. Vergleichbar mit dem Arbeitsprozess, dem sich die Künstlerin unterwirft, treten die Figuren für ihr Bildideal ein. Das serielle Element in Nikola Röthemeyers Arbeitsprozess bildet, ebenso wie selbst gewählte Begrenzungen von Material, Format und Thema, die Basis für das Entstehen dieses Funktionsraumes und seiner Bildwirklichkeit. Trotz der großen Nähe der Arbeiten zu zahlreichen Genredarstellungen bleibt ein klassischer Deutungsversuch erfolglos.

Im zweiten Teil der Serie wird die private Welt verlassen. Nur wenige Arbeiten haben einen häuslichen Hintergrund 14 und sind in der Beschäftigung irrealer und verwunderlicher. Der magische Realismus 15 zeigt sich in einem völlig selbstverständlichen Umgang mit den paradoxen Bildwelten – ein Haufen Flughunde hat es sich in einem Regenschirm gemütlich gemacht, Harpyien sitzen wie Schoßtiere da, zwei Frauen verlieren sich in einem Gewirr aus Fäden, und eine andere Frau wird von Medusen umschwebt. Mit dem Wechsel zum größeren Format innerhalb der Serie geht eine Erweiterung der Charaktere einher. Die Protagonistinnen treten nun wiederholt mit tierischen Begleitern in Interaktion, was den Schritt auf eine weitere Realitätsebene ermöglicht. Das vermeintlich Irreale ist Teil dieser Realität und erscheint nicht als Bruch mit dieser. Im Unterschied zu den inhaltlichen Charakteristika, welche allein über den Intellekt wahrgenommen werden können, lassen sich durch Stilmerkmale wie Überschärfe, Bildperspektive, Format oder Betrachterstandpunkt kleinste Realitätsverschiebungen in die Bildwelten einbauen, die den Eindruck der Verfremdung beim Rezipienten hervorrufen. 16 Von der Überschärfe der Bildmotive und dem damit verbundenen Eindruck der Luftleere ist es nur ein kleiner Schritt zur Statik und damit zur Zeitlosigkeit in den Arbeiten. Die Unbewegtheit der Zeit steht für einen überwirklichen Augenblick, der als Konservierung des Zeitmoments empfunden wird. 17 Hinzu kommt nun das Motiv der Metamorphose, welches in der gesamten Serie präsent ist, jedoch in FrauenZimmer n° 36 (Springerin) besonders deutlich hervortritt. Sie zeigt die fortschreitende Verwandlung von Frau zu Hirsch. Das Fell umspielt bereits ihren Körper, ihre Haare haben sich zu einem Geweih gewunden, während sie ihre Füße in den gemalten Feldern eines Himmel-und-Hölle-Spiels platziert. Die Verschmelzung von realer Wirklichkeit und magischer Realität ergibt spannungsvolle Widersprüche zwischen magisch Simultanem, reinster Gegenständlichkeit in minutiöser Zeichnung und Verschränkung des Makro- und des Mikrokosmos, verbunden mit einem insgesamt statischen Bildeindruck. 18 Auf diese Weise werden dem Betrachter geheime Bindungen von Gegensätzen enthüllt. 19

Zur Einordnung von Realismus und Wirklichkeit in den Arbeiten Nikola Röthemeyers gilt es, Bildtraditionen und Inhalte zu beachten. Kunst als weltschöpferische Leistung des Menschen hat sich im 20. Jahrhundert von den Aufgaben der Mimesis befreit. Die Wiedergabe und Nachahmung von Natur und Welt als Grundlage von sakralen, memorialen oder historischen Themen hat ihre Bedeutung verloren. 20 Eine neue Eigenwertigkeit des Bildes als künstlerisches Faktum gilt heute nicht mehr ausschließlich für ungegenständliche Kunst, sondern auch im Rückgriff auf ein gegenständlich orientiertes Bild. Denn auch hier ist die Diskrepanz zwischen der Bildwirklichkeit des künstlerischen Faktums und der Bedeutungswirklichkeit seiner Darstellung erfahrbar. 21 Nikola Röthemeyer knüpft an diese Traditionen an und schafft mit ihrer Serie einen in sich geschlossenen Kosmos. Gleich einem Weltenbauer, der Herr über sein eigenes Universum ist, nutzt sie ihre Ressourcen. Der Ursprung ihrer Bildtraditionen liegt in der Inspiration aus Genre und magischem Realismus 22 , was sie auch auf einzelne Bildwelten anwendet. Mit einer Bildkonstante, wie dem Erstarren der Zeit oder vermeintlichen Leerräumen als Bildgründe, entsteht ein Fundament für die Serie. Die enge Bindung zu den Kompositionsideen des japanischen Farbholzschnitts wird ergänzt durch ein überreales Frauenbild, eine personifizierte Figur, nur um dies im nächsten Schritt in Frage zu stellen. Und am Ende bleibt es doch die Verrätselung des Alltags.

 
1  Literarische Vorbilder sind unter anderem Jorge Luis Borges und Haruki Murakami (unveröffentlichtes Gesprächsprotokoll mit Nikola Röthemeyer vom 4. 5. 2012).
2   Dazu Norbert Schneider: Geschichte der Genremalerei – die Entdeckung des Alltags 
in der Kunst der frühen Neuzeit, Berlin 2004, S. 11 ff. und Barbara Gaehtgens (Hrsg.): Geschichte der Genremalerei – Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 4, Berlin 2002, S. 193 ff.
3   Der Kunstkritiker Franz Roh prägte in den 1920er Jahren den Begriff des magischen Realismus als Strömung der Neuen Sachlichkeit. Der magische Realismus gilt als realistische Maltechnik mit realis- tischen Darstellungen von Motiven, die in ihrer Gesamtheit im Betrachter eine befremdliche Wirkung   hervorrufen. Dazu Michael Scheffel: Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung, Stauffenburg (= Stauffenburg Colloquium, 16) 
(AL 22/30), Tübingen 1990, S. 1 f.
4   Die Serie der FrauenZimmer I und II umfasst 50 Werke in zwei Formaten und entstand in den Jahren 2006 bis 2011. Der Wechsel in das größere Format erfolgte 2010 und resultierte aus dem künstlerischen Bedürfnis nach einem größeren Ideenfeld.
5   Unveröffentlichtes Gesprächsprotokoll mit Nikola Röthemeyer vom 4. 5. 2012.
6   Vergl. FrauenZimmer n° 03 (Laub), FrauenZimmer n° 12 (Kommode), FrauenZimmer n° 21 (Tiger), FrauenZimmer n° 11 (Stelzen).
7   Faszination Japan – Japanischer Holzschnitt und europäische Graphik 1870–1914, Ausst. Kat. Studio 38 im Alten Museum, Staatliche Museen zu Berlin (DDR), 1984, S. 5.
8   Friedrich B. Schwan: Handbuch japanischer Holzschnitt, München 2003.
9   Hokusai, Nagata Seiji (Hg.), München 2010, insb. S. 191.
10   Von Frans Hals bis Vermeer – Meisterwerke holländischer Genremalerei, Ausst. Kat. Gemäldegalerie SMPK Berlin, 1984, S. 320 f.
11   Vergl. Arbeiten von Nicholas Maes, Pieter de Hooch, Jan Vermeer u. a.
12   »Since much of the actual labour involved in creating and maintaining a pleasant domestic environment was carried out away from masculine view, the results (…) must have seemed mysterious and faintly miraculous, beneficient favours of some invisible domestic genius.« (Marjorie E. Wieseman: Vermeer’s Women – Secrets and Silence, Cambridge 2011, S. 8 f.)
13   Schneider, (s. Anm. 2), S. 137 f.
14   Siehe FrauenZimmer n° 47 (Pfau) oder FrauenZimmer n° 49 (Teetrinkerinnen).
15   Mit »magisch« sind keine religiösen oder mystischen Implikationen verbunden. Dieses Adjektiv soll lediglich auf den bildinhaltlichen Aspekt einer geheimnisvollen Gesamtatmosphäre hindeuten, welche die Grenze zur Irrealität und Fantastik nie überschreitet. Vgl. Andreas Fluck: »Magischer Realismus« in der Malerei des 20. Jahrhunderts, Europäische Hochschulschriften Bd. 197, Frankfurt a. M. 1994, S. 144 f.
16   Ebd., S. 195.
17   A. Neumeyer: Zur Raumpsychologie der Neuen Sachlichkeit, in: Zeitschrift für Bildende Kunst, Jg. 61 (1927/28), S. 69.
18   Scheffel (s. Anm. 3), S. 8.
19   Ebd., S. 12.
20   Jutta Hülsewig-Johnen: Wie im richtigen Leben? Überlegungen zum Porträt der Neuen Sachlichkeit, in: Neue Sachlickeit – Magischer Realismus, Jutta Hülsewig-Johnen (Hg.), Bielefeld 1990, S. 8.
21   Ebd., S. 9
21   Vgl. zur Problematik der Definition des magischen Realismus Fluck (s. Anm. 15), S. 418 f. und Scheffel (s. Anm. 3), S. 1 ff.

in: FrauenZimmer, Zeichnungen von Nikola Röthemeyer, Snoeck Verlag, Köln 2012