Nicole Büsing & Heiko Klaas: Vier Wochen Kunstresidenz in Bad Gastein: Inwiefern haben dich der Ort und die spezifische Landschaft inspiriert? Imperialer Glanz und bröckelnder Putz liegen hier ja recht eng beieinander. Ist etwas davon in deine Arbeit eingeflossen? Haben sich hier neue künstlerische Möglichkeiten aufgetan, die sich zu Hause in deinem Berliner Atelier so nie ergeben hätten?
Nikola Röthemeyer: Als ich in den ersten Tagen durch Bad Gastein lief, hatte ich mit einer Art Reizüberflutung zu tun, da ich an zahlreichen wundersamen Orten mit meiner zeichnerischen Arbeit hätte anknüpfen können. Die Stadt und die Landschaft haben mich vor allem aufgrund ihrer Gegensätze sehr inspiriert. Faszinierend war zum einen der morbide Charme dieser »Geisterstadt«, wobei gerade das Fragmentarische und Lückenhafte für mich sehr geheimnisvoll und anziehend war. Auch in meinem Zeichenprozess ist die Selektion von Information und die Unvollständigkeit ein spannender Moment – Pausen und Leerstellen sind für mich immer wie Platzhalter für Erinnerungen und Zwischenräume für Gedanken. Im Gegensatz dazu ist man in Bad Gastein umgeben von einem gewaltigen Bergpanorama und ungestümer Natur, die alles andere als Fragilität und Vergänglichkeit ausstrahlen.
NB & HK: Welche Arbeiten sind dann konkret vor Ort entstanden?
NR: Entstanden ist die Werkgruppe »Beyond Interiors II«, die aus den Serien Badeblätter, Miramonte und Congress besteht. Es sind meine subjektiven Interpretationen des einst mondänen Kurorts. Eigentlich wollte ich hier ein ganz anderes Projekt umsetzen – über die Jahre ist im Rahmen meiner Arbeit ein umfangreiches Archiv kleinformatiger „Suchezeichnungen“ entstanden, das ich während meines Stipendienaufenthalts experimentell erweitern wollte.
Neue Möglichkeiten für meine Arbeit haben sich in Bad Gastein auch aus begrenzten Mitteln ergeben. Bei der Bilderstellung durchlaufe ich normalerweise ein komplexes System mehrschichtiger Arbeitsphasen, das umfangreiche Recherchen, Inszenierungen mit Modellen im Atelier und meine »Suchezeichnungen« beinhaltet. Die Zeit ist dabei ein essenzieller Werkstoff, ebenso wie Papier, Graphit und Farbstift. Die begrenzte Zeit hat mich inspiriert, mit Cutouts und Scherenschnitten zu arbeiten, wobei diese Collagetechnik normalerweise ein Arbeitschritt ist, den ich am Rechner durchführe. Da ich in Bad Gastein komplett analog unterwegs war, konnte ich nur manuell arbeiten, was mich am Ende aber zu neuen Lösungen im Bildfindungsprozess geführt hat. Auch der Sprung in die Farbe wurde durch das experimentelle Arbeiten mit Papier und Schere begünstigt, da ich seit vielen Jahren in einem begrenzten Farbspektrum von Papierweiß, Schwarz, Graphitgrau, Ocker und Scharlachrot arbeite.
NB & HK: In deinen in Bad Gastein entstandenen Zeichnungen und Collagen mischen sich Versatzstücke aus Natur, Architektur und Technik zu fiktiven Bildwelten. Inwiefern hast du dich von der Flora und Fauna der Alpenwelt oder anderen ortsspezifischen Eigenheiten inspirieren lassen?
NR: Besonders faszinierend war für mich das Kongresszentrum vom Salzburger Architekten Gerhard Garstenauer aus den 1970iger Jahren. Seit der Schließung im Januar 2007 befindet sich der Bau im stetigen Prozess des Verfalls und der Verwahrlosung. In Berlin hätte mich das wuchtige Gebäude wahrscheinlich nicht so sehr beeindruckt, aber inmitten dieser Kulisse aus »imperialem Glanz, bröckelndem Putz« und einer fantastischen Alpenlandschaft war die Betonruine im Ortskern fesselnd.
NB & HK: Wie hat sich die Beschäftigung mit dem Gebäude auf deine Arbeit ausgewirkt?
NR: Thema meiner Arbeiten ist die lautlose Rückeroberung dieser imposanten Skulptur durch die angrenzende Tier- und Pflanzenwelt. Die Durchdringung von Innen- und Außenraum ist an vielen Stellen eindrücklich zu beobachten: In den gläsernen Kuppeln wachsen Biotope, in der Eingangshalle wuchert im Teppich eine Mooslandschaft und durch die Glasfassaden sieht man die Bergwelt. Die Scherenschnitte und Cutouts sind Abstraktionen dieser Okkupation durch Flora und Fauna. In meinen Zeichnungen ist die Durchdringung von Grenzen immer ein wesentliches Thema: Mich interessieren Bildwelten, die Grenzen zwischen realer Wirklichkeit und magischer Realität auflösen, jedoch konkrete Bezüge zum Leben spürbar machen.
Die Cutouts und Scherenschnitte sind vor allem aus Material entstanden, das ich vor Ort gesammelt habe. Dazu gehören meine Fotos vom Kongresszentrum, Archivmaterial aus dem Tourismusverband, Bildmaterial von Tieren und Pflanzen aus der Schulbibliothek, alte Postkarten aus dem Gasteiner Museum, Anzeigen und Werbeprospekte. Während die Scherenschnitte der Congress Serie die Vereinnahmung monumentaler Architektur durch Flora und Fauna interpretieren, zitieren die Badeblätter darüber hinaus Szenen medizinischer Kuranwendungen aus Werbeannoncen der Bad Gasteiner Badeblätter, die in den 1930er bis 1970er Jahre herausgegeben wurden. Die Blätter der Miramonte Serie sind Variationen eines immer gleichen Bad Gasteiner Bergpanoramas, das zu einer Bühne für fantastische Grenzgänge und magische Momentaufnahmen wird. Verwendet habe ich dafür die Briefbögen des Hotels Miramonte mit einer Fotografie von Giovanni Castell.
NB & HK: Für die Abschlussausstellung im Atelierhaus hast du deine Arbeiten in Vitrinen und an den Wänden präsentiert. In eine Ecke unter der Decke hast du einen exotischen Eisvogelschwarm als schwarze Wandzeichnung platziert. Könntest du die Wahl ganz verschiedener Präsentationsweisen im Rahmen der Gesamtinstallation näher erläutern?
NR: Seit einigen Jahren präsentiere ich einen Teil meiner Arbeiten in Vitrinen, die speziell für meine Zeichnungen konzipiert wurden. Formal setze ich sie als installative Elemente neben meinen Wandarbeiten im Raum ein. Bisher habe ich in den Vitrinen meine Zeichenarchive gezeigt, die aus Übersetzungen für Strukturen, Materialitäten und Stofflichkeiten sowie für Atmosphären und Emotionen bestehen. Diese Blätter können in sich geschlossene Welten bergen, daher sind sie für mich keine Skizzen oder Studien, sondern eigenständige Gedanken, die ich wiederum in den großen Arbeiten zitiere. Die in Bad Gastein entstandenen Cutouts und Scherenschnitte haben für mich eine vergleichbare Qualität – es sind abgeschlossene Arbeiten, die meine Suche nach neuen Bildwelten und einem erweiterten Zeichenvokabular dokumentieren und damit Ausgangspunkte für eine neue Serie von Zeichnungen sind. Da ich die Suche in meine Präsentationen einbeziehe, haben meine Ausstellungen immer auch einen Prozesskunstcharakter.
NB & HK: Wie bist du mit den Räumen im Alten Wasserkraftwerk umgegangen?
NR: Das Alte Wasserkraftwerk hatte von Anfang an eine starke Wirkung auf mich, eine Art magischer Anziehung. Es war für mich klar, dass mein Atelierraum ein Teil meiner Inszenierung für die Abschlussausstellung werden sollte. In den Glasoberflächen der Tische spiegeln sich die Wandarbeiten, so dass sich Bilder im Raum überlagern, die auch im Entstehungsprozess eng miteinander verwoben sind. In dem Eisvogelschwarm setzen sich wiederum Motive der Scherenschnitte fort. Auch die Ornamente des handgerollten Tapetenmusters auf den Wänden werden zu einer subtilen Erweiterung der collagierten Blätter. So wird das Atelier aufgrund der unterschiedlichen Bezüge der Arbeiten untereinander zu einer Bühne anstatt lediglich die Aufgabe eines Bildträgers zu übernehmen. Die Zeit in Bad Gastein hat mich sehr motiviert, künftig den Raum mehr in meine Arbeiten und Präsentationen einzubeziehen.
Am Ende habe ich mir mehr Zeit gewünscht, um auch andere Räume im Kraftwerk bespielen zu können. Die wunderbare Wendeltreppe durch die drei Etagen hat mich immer an Erzählungen von Jorge Luis Borges erinnert. Besonders faszinierend war für mich auch das alte, verkommene Badezimmer gleich neben meinem Atelier. Die Badewanne hatte diese uralten Armaturen, die ich noch aus dem Haus meiner Großeltern kenne. Den Stadtraum habe ich als Ort der Inszenierung nicht in Erwägung gezogen, da überschaubare Begrenzungen und Räume meinen konzentrierten Arbeiten immer gut tun.
NB & HK: Der Aufenthalt in den Alpen steht in großem Kontrast zu dem Großstadtleben etwa in Hamburg, Berlin oder Wien, wo der Kunstbetrieb, die abendlichen Eröffnungsmarathons und der Diskurs allgegenwärtig sind. Was war das Besondere an der Kunstresidenz in Bad Gastein, und inwiefern waren die Begegnung mit dem Ort, der Natur und der Austausch mit den anderen Stipendiaten wichtig für deine Arbeit?
NR: Ich habe in Bad Gastein vor allem den hohen Grad an Konzentration auf meine Arbeit genossen. Es gab keine Störfaktoren, die normalerweise mit der Bewältigung alltäglicher Verpflichtungen einhergehen. Für mich war die Zeit fern vom Großstadttrubel ein großer Luxus, da die Natur für mich immer einen hohen Erholungswert hat. Wir waren auch ein gutes Team von sieben sehr unterschiedlichen KünstlerInnen, und ich habe die einzelnen Positionen und die intensive als auch entspannte Arbeitsatmosphäre als große Bereicherung empfunden. Wir haben uns ausgetauscht und trotzdem konnte jeder in die eigene Arbeit abtauchen.
Es waren für mich optimale Bedingungen, um die Ressourcen dieses besonderen Ortes zu nutzen und außerhalb der gewohnten Strukturen neue Arbeitsmethoden auszuloten. Neben meinem konkreten Projektbezug war die Stipendienzeit für mich vor allem ein Raum der Inspiration, Suche und Standortbestimmung. Der Rückzug in eine »analoge Welt« und die Möglichkeit des künstlerischen Diskurses haben die Zeit in Bad Gastein für mich zu einer intensiven und produktiven Erfahrung gemacht, in der ich neue Weichen für meine künstlerische Arbeit stellen konnte.
NB & HK: Die Kunstresidenz Sommerfrische ist noch ein junges Projekt. In diesem Jahr waren sieben Künstler zur selben Zeit in Bad Gastein zu Gast. Die Gruppe ist durch die räumliche Nähe im Hotel und im Atelierhaus sowie durch die gemeinsamen Mahlzeiten eng zusammengewachsen. Zum Abschlusswochenende ist eine große Gruppe von auswärtigen Kunstinteressierten und Kunstprofis angereist. Zum Teil sogar aus Wien, Berlin oder Hamburg. Findest du dieses Modell gelungen, und was könntest du dir für die Zukunft für das Projekt Kunstresidenz noch für weitere Entwicklungsmöglichkeiten vorstellen?
NR: Das Modell der Sommerfrische in Bad Gastein ist einmalig und großartig. Die erfrischende Entgleisung aus dem Alltag macht die Rückkehr in das normale Leben allerdings nicht gerade leicht. Normalerweise ist das Zeichnen für mich eine einsame Tätigkeit, bei der ich in einem Raum mit meinen Bildern, meinen Stiften, Stapeln von Papier und ausreichend Zeit abtauchen möchte. Die Residenz in Bad Gastein hat mir diesen Raum geboten und darüber hinaus auch den Austausch mit sehr spannenden KollegInnen. Die gemeinsamen Mahlzeiten im Hotel und ein paar fantastische Wanderungen an den Wochenenden haben meinen Arbeitsrhythmus auf angenehme und entspannte Weise strukturiert, was ich als sehr schöne Abwechslung empfunden habe.
Die Zusammenarbeit zwischen den Künstlern konnte vor allem deshalb so gut funktionieren, weil die Strukturen vor Ort perfekt organisiert waren. Es gab von allen Seiten viel Einsatz für uns und unsere Arbeit und wir wurden mit großem Engagement von Andrea und Doris begleitet und unterstützt. Auch vor Ort haben sich viele Leute eingesetzt – ich war ja auf die Hilfe von ganz unterschiedlichen Seiten angewiesen, um mein Projekt realisieren zu können, und ich bekam viel Unterstützung von meinen KollegInnen, dem Tourismusverband, dem Miramonte und seinem Team, dem Gasteiner Museum und den Bibliothekarinnen in der Hauptschule.
Das Abschlusswochenende war ein echtes Highlight, und wir haben uns natürlich gefreut, dass so viele spannende Gäste zum Teil von weit her angereist sind. Die professionelle Organisation und sehr viel Herzblut von Seiten der Organisatorinnen haben die Zeit in Bad Gastein für mich zu einem wunderbaren und unvergesslichen Erlebnis gemacht. Ich denke, dass dieses Projekt eine spannende Zukunft vor sich hat, und es sich mit den unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten und Positionen automatisch immer weiterentwickeln wird.
NB & HK: Wir bedanken uns für das Gespräch.
in: Kunstresidenz Bad Gastein 2013, Tourismusverband Bad Gastein, 2013